Presseartikel

nachrichtenblatt - Informationen zur Verkehrspolitik im Rheinland, Heft 1/2006

Wie rechnet man ÖPNV-Projekte tot?
Zur merkwürdigen Methodik der Integrierten Gesamtverkehrsplanung NRW

von Christoph Groneck

Die Integrierte Gesamtverkehrsplanung (IGVP) ist ein Kind der alten rot-grünen Landesregierung. Ziel war ein verkehrsträgerübergreifender Verkehrsinfrastrukturbedarfsplan anstelle sektoraler Pläne für einzelne Verkehrsträger. Im Gegensatz zum alten ÖPNV-Bedarfsplan, der nur nach Maßnahmen des vordringlichen, weiteren sowie möglichen späteren Bedarfs unterscheidet, werden in der IGVP alle für eine Förderung angemeldeten Infrastrukturprojekte nach einem neu entwickelten Verfahren einzeln bewertet und anschließend miteinander verglichen. Mit dem Ziel der Schaffung umfangreicher Vergleichsmöglichkeiten sieht die IGVP für jedes Infrastrukturprojekt eine Kosten-Nutzen-Analyse sowie eine Nutzwertanalyse vor. Am Ende der Kosten-Nutzen-Analyse steht ein Nutzen-Kosten-Quotient, als volkswirtschaftlich sinnvoll gelten Projekte, wenn dieser größer als 1 ist. Die Nutzwertanalyse arbeitet dagegen nach einem Punktesystem, nach welchem verschiedene Einflüsse gegeneinander gewichtet werden können.
Das Resultat der Ende 2005 von der neuen schwarz-gelben Landesregierung veröffentlichten Bewertungsergebnisse ist eindeutig. Nur wenige Schienenvorhaben erreichten nach der Bewertungsmethodik der IGVP einen Nutzen-Kosten-Quotienten von über 1. Die Straßenvorhaben schnitten dagegen um Welten besser ab.
Als von den Vorteilen eines gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrssystems Überzeugter fällt es schwer, die Ergebnisse der IGVP nicht mit Verwunderung, ja Bestürzung zur Kenntnis zu nehmen. Man muss jedoch kein Fundamentalkritiker von Kosten-Nutzen- oder Nutzwertanalysen sein, um die Bewertungssystematik der IGVP massiv in Frage zu stellen. Eine Beschäftigung mit der Materie offenbart schwerwiegende Mängel und offensichtlich absurde Aussagen. Einige Beispiele, die sich in ähnlicher Form systematisch durch die Projektbewertungen ziehen:

• Die Reaktivierung der Bahnstrecke Opladen – Hilden für den Personenverkehr über die zweigleisige, elektrifizierte und stark befahrene Gütermagistrale erhält 560 Minuspunkte aus Faktoren wie Flächeninanspruchnahme und Zerschneidungswirkung.
• Die im Tunnel geplante Verlängerung der Linie 3 ins Hochhausviertel Görlinger Zentrum erhält 80 Minuspunkte aufgrund nicht ausreichender Distanz zu empfindlichen regional bedeutsamen Kulturgütern und Denkmalbereichen.
• Der geplante Wiederaufbau der Straßenbahnstrecke nach Essen-Kray über eine bestehende Spurbus-Betontrasse erhält 100 Minuspunkte wegen Inanspruchnahme schutzwürdiger Böden.
• Für den Straßenverkehr wird bei den Schadstoffemissionen mit Blick auf weiterentwickelte Motorentechnik bis 2010 eine Reduktion um 60% angesetzt. Für den Schienenverkehr bleiben die Emissionen in der Prognose gegenüber heute unverändert.
• Maßnahmen zur Erhöhung der Betriebsstabilität oder Engpassbeseitigung führen im Verfahren zu keinerlei erkennbarem Nutzen, ebenso Maßnahmen zur Herstellung gesetzlich geforderter behindertengerechter Standards, wie etwa der Ausbau von Bahnsteigen. Laut Berechnungsverfahren sind diverse Projekte, die primär oder ausschließlich solchen Zielen dienen, sogar dann volkswirtschaftlich schädlich, wenn man sie geschenkt bekäme.

Anderswo führen offensichtlich falsch aufgestellte Betriebskonzepte zu negativen Ergebnissen, etwa im Zuge des Kölner S-Bahn-Westrings, wo S-Bahnen nach der IGVP mitten in der Pampa in Kalscheuren enden und parallel weitergehende Regionalbahnen fahren sollen. Hier hat man wohl nicht verstanden, dass Kalscheuren das Ende der auszubauenden Strecke, nicht aber das Ende der über den Westring verkehrenden S-Bahnen sein soll.
All diese Aspekte beleuchten zunächst einmal grundsätzliche methodische Schwächen des Verfahrens. Eine Frage bleibt aber gleichwohl zu klären: An welchen Indikatoren lässt sich das schlechte Abschneiden der Schienen- gegenüber der Straßenprojekten festmachen? Und außerdem: Wie lässt sich die offenbare Justierung der IGVP zuungunsten der Schienenprojekte mit der ursprünglichen rot-grünen Intention einer Förderung der Schiene erklären?
Normalerweise würde man bei einer Kosten-Nutzen-Analyse von Nahverkehrsprojekten Betriebskosten für den Fahrbetrieb an exponierter Stelle erwarten. Im Gegensatz dazu sind bei den Bewertungen der IGVP aber durch alle Projekte hindurch vorwiegend zwei Faktoren für die Kostenseite und damit auch für verschlechterte Bewertungen ausschlaggebend: Unterhaltungskosten für die Infrastruktur sowie Abgasemissionen.
Die Unterhaltungskosten für die Infrastruktur werden in der IGVP per Faktor direkt aus den Investitionskosten ermittelt. Dabei werden keine Ersparnisse gegengerechnet, die sich gleichzeitig z.B. aus dem Verzicht auf bestehende Anlagen ergeben könnten. Das daraus entstehende Paradoxon lässt sich mit einem Projektbeispiel gut veranschaulichen: Im Zuge der S12 von Köln nach Au/Sieg soll auf zwei eingleisigen Abschnitten die ehemalige Zweigleisigkeit wiederhergestellt werden. Dies führt zu relativ hohen Investitionskosten, da in diesen Abschnitten mehrere derzeit eingleisige Brücken liegen. Aus dem Investitionsaufwand wurde per Faktor eine immense Erhöhung der laufenden Unterhaltungskosten ermittelt. Ist es abwegig, dass zweigleisig sanierte Brücken gegenüber eingleisigen sanierungsbedürftigen Altanlagen eventuell im Unterhalt sogar preiswerter sein könnten?
Hinsichtlich der für die negativen Bewertungen teilweise in noch größerem Maße verantwortliche Einschätzung der Abgasemissionen ist ein Blick in die Projekthistorie der IGVP aufschlussreich. Hier findet sich schließlich auch die Antwort, warum die Ergebnisse so gut zum verkehrspolitischen Programm der neuen Landesregierung und so wenig zu dem der alten passen. Im März 2004 – vor dem Regierungswechsel – wurden für Schiene und Straße je vier Testvorhaben nach dem damaligen Stand der Methodik bewertet. Seit Ende 2005 – nach dem Regierungswechsel – stehen die endgültigen Bewertungen aller Projekte zur Verfügung. Vergleicht man nun die vier Schienen-Testvorhaben mit den entsprechenden endgültigen Dossiers, so lassen sich bei der Emissionsbewertung Unterschiede feststellen: Alle vier Vorhaben führten diesbezüglich nach der alten Bewertung im Gesamtsystem zu leichten Verbesserungen, nach der neuen Bewertung jedoch zu erheblichen Emissionszuwächsen. Folge: Alle vier Projekte hatten in der alten Bewertung einen klar über 1 liegenden Nutzen-Kosten-Quotient, nach der neuen Bewertung fallen drei durch.
Wer bitteschön soll so etwas fachlich noch ernst nehmen?