Gedränge auf dem toten Gleis
Eine Kleinstadt in NIEDERSACHSEN will eine alte
Bahnstrecke stilllegen - und erlebt eine
Überraschung. Schienen sind wieder wichtig
VON KARL-FRIEDRICH KASSEL
Bis nach Lüchow gibt es immerhin noch Gleise;
gelegentlich töffelt hier noch einmal ein
Nostalgiezug über den verkrauteten Schienenstrang.
Hinter dem Städtchen im abgelegenen Wendland ist
endgültig Schluss. Nur die kühnsten Umweltromantiker
träumten noch davon, dass hier, auf diesem
schienenlosen Bahndamm, je wieder Züge verkehren
würden. Sollte man wirklich bei der Straßenplanung
auf solche Überbleibsel aus dem Eisenbahnzeitalter
Rücksicht nehmen? Selbstverständlich nicht, fanden
einige Lokalpolitiker in Lüchow und regten an, die
neue Ortsumgehung quer über den alten Bahndamm zu
bauen, ohne Brücke.
Aber, Überraschung, so geht es nicht. Niedersachsens
FDP-Wirtschaftsminister Walter Hirche, bislang nicht
als Freund des Schienenverkehrs bekannt, wies die
Lüchower an, alles zu unterlassen, was zu einer
Aufgabe der Bahnstrecke fuhren könnte. Für die
endgültige Aufgabe der Bahnstrecke gebe es »nach
hiesiger Auffassung keine Gründe«, erklärte das
Ministerium.
Aber war das Schicksal all der kleinen Nebenstrecken
und Abstellgleise nicht längst besiegelt? Hieß es
nicht, die Bahn ziehe sich aus der Fläche zurück und
konzentriere sich hinfort auf die lukrative
Verbindung der Metropolen? Wie es scheint, ist die
Wirklichkeit schon wieder etwas weiter, und der
Gemeinderat im abgelegenen Lüchow bekommt den neuen
Trend womöglich als einer der Ersten zu spüren. Die
Bahn ist wieder da.
Fachleute beobachten diese Entwicklung allerdings
schon seit Längerem: Die Kapazitäten der Schiene für
den Gütertransport werden knapp. Im Hinterland der
Seehäfen und auf den Zufahrtsstrecken der Alpenpässe
und -tunnel stauen sich die Waren. Es ist das
rasante Wachstum des Güterverkehrs insgesamt, der
sich Wege sucht, wo immer sie sich finden, nur um
sie alsbald zu verstopfen.
Allein im vergangenen Jahr ist die Transportleistung
der verschiedenen Bahntransporteure nach Angaben des
Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) um
mehr als zehn Prozent gewachsen. Erstmals legten die
Güterzüge insgesamt die unglaubliche Strecke von 100
Milliarden Kilometer zurück. Insgesamt findet ein
knappes Fünftel des Gütertransports auf der Schiene
statt, Tendenz steigend.
Besonders stark wächst der Güterverkehr im
Hinterland der Seehäfen. Der Hamburger Hafen hat die
Masse der umgeschlagenen Güter binnen sechs Jahren
verdoppelt. Acht Millionen Standardcontainer im Jahr
müssen irgendwie weggeschafft werden, in acht Jahren
werden es 18 Millionen sein, und keine Nebenstrecke
ist so klein, dass sie dabei nicht ihre Rolle
spielen könnte. Und was für Hamburg gilt, trifft
auch für andere Seehäfen wie Bremen und - in Zukunft
— den Tiefwasserhafen Wilhelmshaven zu. Das ist der
Kern der Nachricht, die Lüchows Gemeinderat so
überraschte.
Bei der Politik sei dieser Umschwung noch nicht
angekommen, sagt VDV-Bahngeschäftsfuhrer Dr. Martin
Henke. Ja, es würden Gleise gebaut; bis 2015 soll
beispielsweise die neue Y-Trasse fertiggestellt
sein, die als Entlastung der völlig überforderten
Nord-Süd-Magistrale zwischen Hamburg und Hannover
vorgesehen ist. Der Bau eines dritten Gleises bis
Lüneburg, die Möglichkeit, zur Not auf die Strecken
der Osthannoverschen Eisenbahn auszuweichen - aus
Sicht Henkes, der auch im Beirat des Hamburger
Hafenbetreibers sitzt, ist das alles viel zu wenig.
Mehr als 200 Bauvorhaben zur Erweiterung des
Schienennetzes seien notwendig. Vor allem einfach
ausgebaute Strecken für den vergleichsweise
langsamen Güterverkehr würden dringend benötigt.
Stattdessen, beschwert sich das Fachblatt
Bahn-Report* seien die knappen Mittel eine Dekade
lang in Hochgeschwindigkeitsprojekte gesteckt
worden. »Eigentlich«, sagt Henke, »müsste man sofort
mit dem Ausbau der Hinterlandstrecken beginnen.«
In Lüchow muss jetzt die Ortsumgehung der
Bundesstraße mit einer Brücke versehen werden, damit
künftig vielleicht Güterzüge auf der Strecke der
Deutschen Regionaleisenbahn (DRE) fahren können. Die
Ortsumgehung wird im Bundesverkehrsministerium als
»vordringlicher Bedarf« betrachtet. Die Bahnlinie
noch lange nicht.